Hier ist Gottes Grund mein Grund
1.Korinther 3,11 – Reformationsfest
»Ich muss wieder zu mir kommen.«, sage oder denke ich manchmal. Wenn ich erschöpft bin vom Alltag. Wo ich mich mit meinen Stärken präsentieren und funktionieren muss. Wo die mobile Welt eine ständige Flexibilität fordert. Wo ich permanent erreichbar sein und meine Rolle gut spielen soll. Wo ich mich um mich selber drehe.
»Ich muss wieder zu mir kommen.« Dazu macht Meister Eckhart im frühen 14. Jahrhundert eine provokante Einladung:
Wer kommen will in Gottes Grund,
in dessen Innerstes,
der muss zuvor in seinen eigenen Grund,
in sein Innerstes kommen,
denn niemand kann Gott erkennen,
der nicht zuvor sich selbst erkennen müsse.
Hier ist Gottes Grund mein Grund
und mein Grund Gottes Grund.
Für diese und andere mystischen Aussagen wurde Eckhart der Häresie angeklagt. Und er ist nur knapp dem Scheiterhaufen entronnen. Meister Eckharts Worte sind eine Einladung, sich auf die abenteuerliche Suche ins eigene Innere zu begeben. Mir eine Auszeit zu gönnen. Im Schweigen ruhig und still zu werden. Im Gleichklang des Atems Schritt für Schritt loszulassen, was mich von mir wegzieht. Damit ich leer und frei werde und ganz bei mir bin. Vorbehaltlos Ich bin. Und dann entdecke:
Hier ist Gottes Grund mein Grund
und mein Grund Gottes Grund.
Hier ist der Grund meines Daseins, nicht selbstgemacht. Sondern göttlicher Grund, erfüllte Leere, belebte Ruhe. Ich selbst in ihm gegründet.
Diese Gedanken spitzt Paulus in sehr pointierter Weise zu. Was Meister Eckhart als individuellen Weg ins eigene Innere und damit zu Gott beschreibt, denkt Paulus von der Gemeinschaft her. In der von Paulus gegründeten Gemeinde in Korinth toben heftige Auseinandersetzungen unter den Mitarbeitenden. Die Differenzen sind so stark, dass der Gemeinde ein Zerbrechen in unterschiedliche Gruppierungen droht. Um in diesem Streit zu vermitteln, schreibt Paulus einen Brief. Dessen Kernsatz lautet:
Einen anderen Grund kann niemand legen
als den, den Gott schon gelegt hat: Jesus Christus.
Zwei Blickwinkel bringt Paulus in diesen Konflikt ein: Einerseits verweist er auf den tragenden Grund der Gemeinde. Wenn auch jede und jeder seine eigene Erfahrung mit Gott gemacht hat und daraus seine eigene Glaubenspraxis entwickelt hat, so stehen doch alle auf dem gleichen Fundament. Alle nutzen dieses Fundament, das Gott gelegt hat. Und er allein schenkt auf diesem Grund Leben und Wachsen. Diesem Boden hat Gott selbst eindeutige Konturen, ja einen Namen und ein Gesicht gegeben: Jesus aus Nazareth, der Christus, ist dieser Grund. Ihn darf niemand als eigenen Besitz vereinnahmen. Und auf ihm als Fundament sind sehr viele verschiedene Glaubensentwürfe denkbar, die nicht zu Gegensätzen werden müssen.
Und andererseits beschreibt Paulus eine klare Folgerung für den Dienst der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde. Weil alle auf diesem einen tragenden Grund stehen, sind die, die sich nach Christus Christinnen und Christen nennen, auch miteinander im Dienst der Sache Gottes. Wir sind Gottes Mitarbeitende, schreibt Paulus wenige Sätze vorher in demselben Brief (V 9). Entscheidend ist nicht, wer seine Glaubensüberzeugungen besser oder lauter vorbringen kann. Auch nicht, wer dabei mehr oder weniger Zustimmung findet. Christinnen und Christen sind nicht Parteigänger einer bestimmten spirituellen Richtung. Sie sind Mitarbeitende Gottes.
Genau diese beiden Bezugspunkte haben viel später auch Martin Luther und die anderen Reformatoren bewegt. Das programmatisches „solus Christus“, „Allein Christus“ war ja keine Kampfformel für eine neue Kirche. Luther wollte in den theologischen Streitigkeiten seiner Zeit an jenes Fundament erinnern, auf dem der Glaube und die Gemeinschaft der Glaubenden einmal begründet worden ist. Und so unterschiedlich sich die verschiedenen Kirchen auch entwickelt haben: In Christus haben sie ihren gemeinsamen Bezugspunkt. Sie sind nicht getrennt durch die Verschiedenheiten der Spielarten des Glaubens, die sich in ihren Traditionen entwickelt haben. Die einen bezeichnen in sieben Sakramenten, die anderen in zwei das Heil Gottes. Die einen betonen die Kraft Gottes, die anderen setzen auch auf die Kraft des Menschen. Die einen sind bilder- und expressionsfreudig, die anderen sind bilderskeptisch und wortfreundlich. Die einen betonen beim Abendmahl die Gegenwart Christi in den verwandelten Gaben von Brot und Wein, die anderen dieselbe Gegenwart im Essen und Trinken. Es sind verschiedene Begabungen der Kirchen, die in verschiedenen historischen Situationen gewachsen sind und den jeweiligen Kirchen ihr ganz eigenes Gewicht geben. Bei aller Vielfalt sind und bleiben sie schon geeint in Christus. Auch wenn uns manche etwas anderes glauben machen wollen.
Einen anderen Grund kann niemand legen
als den, den Gott schon gelegt hat: Jesus Christus.
An beides zu erinnern – an den gemeinsamen Grund des Glaubens in Gott und an die Gemeinschaft im Leben dieses Glaubens – tut auch heute Not. Denn wir leben in einer Zeit, in der der eigene Grund verabsolutiert wird. Wer gefestigt zu sein glaubt, spricht lauter und offensiver. Was sie selbst erkannt haben, soll nicht nur für sie selbst, sondern für jeden Menschen verbindlich sein. Nur sie haben recht. Alles andere ist Sünde und Unglaube oder Dummheit oder Einfluss der Eliten. Deshalb soll das private und gesellschaftliche Leben mit strengen Regeln und Vorschriften überzogen werden.
Die Regeln entstammen einer unreflektierten, wörtlichen Auslegung von Bibel oder Koran oder extremistischen Ideologien. Immer sind sie angeblich eindeutig und nicht hinterfragbar oder diskutierbar. Es ist ein ins Maßlose gesteigerter Umgang mit Glaubenssätzen, es ist Fundamentalismus. Es gibt ihn in evangelikalen christlichen Kreisen bei uns wie in den USA. Es gibt ihn bei islamistischen Terrorgruppen und in extremistischen Parteien. Nie gibt es etwas zu interpretieren und schon gar nichts zu lachen. Was richtig ist, darum wird nicht gerungen. Das Richtige steht fest oder wird von oben festgelegt. Unter bewusstem Verzicht auf das eigene Denken. Je absurder, desto mehr glaubt man es. Das ist so schön einfach und übersichtlich. Aber es ist eine Verkehrung der Gedanken von Meister Eckhart:
Hier ist Gottes Grund mein Grund
und mein Grund Gottes Grund.
Und eine Verkehrung des Paulus. Deshalb bin ich dankbar in einer Kirche der Reformation beheimatet zu sein. Die mich denken und fragen lehrt. Die sich nicht selbst genügt. In der wir uns nicht beruhigt einrichten können. Die immer neu reformiert werden muss.
Und ich bin dankbar für den Grund, auf dem ich stehe. Er igelt mich nicht ein, sondern schenkt mir Freiheit. Es wirft mich auch nicht aus der Bahn, wenn andere neben mir ihren Glauben mit anderen Worten beschreiben. Sondern bin froh über die Vielfalt der Glaubensdialekte.
Aber diese gefestigte Freiheit ist kein Automatismus. Sie ist ein Gottesgeschenk. Und ich wünsche, dass die Sehnsucht danach uns weiterbewegt. Dass wir eine Gemeinde bleiben, in der viele ihr je eigene Spiritualität suchen und finden, ohne sie zu verabsolutieren. Und uns gemeinsam als Gottes Mitarbeitende begreifen.
Einen anderen Grund kann niemand legen
als den, den Gott schon gelegt hat: Jesus Christus.
Amen.