
Vom Be-Reich Gottes im Herzen
Lukas 17,20b-21 – Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
Die Religiösen verstehen sich aufs Deuten.
Die Ungläubigen benötigen Klartext.
Schreibt der Schriftsteller Botho Strauß in seinem Buch „Vom Aufenthalt". Die ‚Ungläubigen‘ müssen Gott unbedingt sehen, ihn dingfest machen, angreifen können. Die ‚Religiösen‘ dagegen können das Unsichtbare der Nähe Gottes gelten lassen. Sie fragen nach Gott, weil sie sich danach sehnen, dass Gott endlich einlöst, was er versprochen hat.
Wo ist dieser Gott, der Gerechtigkeit und Friede zugesichert hat? so fragen die anderen nach ihm, weil sie sich nicht vorstellen können, dass die Welt so wie sie ist, dem Plan eines Gottes entstammen könnte. Wenn es doch Kriege, unheilbare Krankheiten und Katastrophen gibt – wo ist da Gott?
Jesus wurde diese Frage auch einmal gestellt. Er und seine Freunde sind unterwegs von Galiläa nach Jerusalem, ziehen von Dorf zu Dorf. Sie kehren bei den Menschen ein, reden mit ihnen, predigen, heilen Kranke. Einmal begegnet ihnen eine Gruppe von Pharisäern. Die Pharisäer kennen die heiligen Schriften Israels genau. Nach ihrer Vorstellung wird Gott bald über die ganze Welt herrschen und seinen Messias schicken. Das richtige Datum, wann das sein wird, versuchen sie sogar anhand der Sterne zu berechnen. Und sie fragen nun Jesus: »Wann kommt das Reich Gottes?«
‚Reich Gottes‘ ist ein großes Wort. Unter ‚Reich‘ könnte ich vorschnell ein geographisch abgrenzbares Gebiet verstehen, einen Ort mit klar bestimmbaren Grenzen. In der Bibel ist das anders. Da meint ‚Reich Gottes‘ einen dynamischen Begriff. Das Reich Gottes ist also nicht so klar in seinen Grenzen zu bestimmen, sondern verweist immer auf ein Handeln Gottes; es ist sein Einfluss-Be-Reich. Die Pharisäer sehnen sich danach, dass die ganze Welt im Einfluss-Be-Reich Gottes liegt. Und Jesus sagt ihnen zunächst, wo Gott nicht zu finden ist.
20b Das Reich Gottes kommt nicht so,
dass man's beobachten kann;
21a man wird auch nicht sagen:
»Siehe, hier ist es!« Oder: »Da ist es!«
Der Be-Reich Gottes lässt sich nicht beobachten, nicht berechnen, auch nicht aus den Sternen lesen. Gott lässt sich nicht festlegen. Jetzt sind die Pharisäer gespannt, was Jesus zu sagen hat, nachdem er ihnen erzählt hat, wo Gott nicht zu finden ist. Also: »Wie ist es denn jetzt wirklich? Sag schon, Jesus! Wo ist Gott?« Jesus antwortet – in der ursprünglichen Übersetzung Martin Luthers:
21b »Siehe, das Reich Gottes ist inwendig in euch.«
Ob die Pharisäer sofort verstanden haben, was Jesus mit diesen Worten gemeint hat? Das Reich Gottes inwendig; es entsteht im Innersten des Menschen, im Herzen. Ein Gott, der die Herzen der Menschen erobert – und so die ganze Welt.
Damit durchkreuzt Jesus alle Versuche, das Reich Gottes zu einem politischen Gebilde zu machen, das wie ein weltlicher Staat durch eine Regierung beherrscht und durch Grenzen geschützt wird. Man kann das Reich Gottes auf keiner Landkarte finden.
Manche Menschen trauen ihrem Innersten nicht. Sie haben Sorge, dass der Raum in ihrer Mitte leer ist, und vorsorglich nehmen sie einen Gott von außen mit hinein. Jesus hingegen befreit von der irrigen Ansicht, dass der Mensch ein von Gott getrenntes Wesen sei. Der Be-Reich Gottes ist nicht abgehoben, im Himmel oder sonst wo oben, sondern hier und jetzt. Wir gelangen nicht irgendwann einmal – nach dem Tod – ins Reich Gottes, wir sind schon im Be-Reich Gottes, ja er ist in uns. Wie es schon im 1.Mosebuch heißt: Gott schuf den Menschen zu seinem Bild, zum Bild Gottes schuf er ihn; und schuf sie weiblich und männlich. (1.Mose 1,27) Jeder Mensch ist göttlichen Ursprungs, trägt göttliches Leben in sich.
Immer wieder wurde das so gedeutet, als sei mit dem inwendig in euch die bloße Gesinnung gemeint. Vielleicht haben deshalb die meisten Übersetzenden nach Luther und auch die revidierte Lutherübersetzung denselben Passus bei Lukas mit mitten unter euch – das Reich Gottes ist mitten unter euch übersetzt. Und das griechische Wort im Urtext der Bibel an dieser Stelle kann tatsächlich beides heißen: sowohl 'in euch drin, inwendig in euch' als auch 'innerhalb von euch, inmitten von euch'. Jesus hat sich niemals nur auf die Gesinnung der Einzelperson bezogen. Er sieht den Menschen vielmehr immer in Bezogenheit. Mitten unter euch meint eben nicht nur: in euren Gefühlen, sondern: in euren Beziehungen. Da entscheidet sich, ob Leben gelingt – heute genauso wie zurzeit Jesu.
Aber wieso hat Luther dann die Übersetzung inwendig in euch gewählt? Vielleicht hängt das mit seiner Verbundenheit zum Straßburger Prediger Johannes Tauler zusammen, den er so häufig zitiert. Tauler verweist in seinen Predigten mehrfach darauf, dass das Reich Gottes „... in dem innersten, allerverborgensten, tiefsten Grund der Seele ruhe ...“ und dies sei von Jesus im Lukasevangelium gemeint mit den Worten: Das Reich Gottes ist in euch. „Nehmt des Grundes in euch wahr, sucht das Reich Gottes und allein seine Gerechtigkeit; das heißt: suchet Gott allein, er ist das wahre Reich.“
Für Tauler und Luther ist also völlig klar, dass das inwendig in euch keine Sache der individuellen Innerlichkeit ist. Niemand und nichts kann isoliert existieren. Es geht auch nicht in erster Linie um eine individuelle Entfaltung der Persönlichkeit, selbst wenn dies gerade in unserer Zeit immer wieder gesagt wird. Im Be-Reich Gottes kann sich niemand allein entwickeln. Wer sich außerhalb des allgemeinen Zusammenhangs entwickeln will, isoliert sich und schadet der Gemeinschaft und letztlich sich selbst. In Wirklichkeit kann ja niemand ganz aussteigen. Wir leben von klein auf in einem Netz von Beziehungen und diese Beziehungsstrukturen sind ein Teil von uns. Ich werde, was ich bin, im ständigen Austausch mit meiner äußeren Umgebung und meinen inneren Prozessen.
Mein tiefstes Wesen entwickelt sich nicht allein aus sich selbst. Es bedarf der Provokation durch wechselseitiges aufeinander Einwirken zwischen mir und der Umgebung. So provozieren die Pharisäer mit ihrer Frage und Jesus sie mit seiner Antwort. Jede und jeder braucht Bezugspersonen, das Wort aus den heiligen Schriften, die Gesellschaft als ‚Reibebäume‘ des Werdens. So bleiben wir weiter auf einem Weg nach innen. Dort erfahre ich, mit Meister Eckhart gesagt, einen Gott, der „… mir näher [ist], als ich mir selber bin“. Amen.